Vorlesetag
Als ich noch sehr klein war, durfte ich oft bei meiner Oma im Rheinhessischen übernachten. Etwas ganz besonderes, denn die Oma war nicht nur sehr lieb, sie war auch komplett anders eingerichtet! Da waren: das Plumpsklo, vor dem ich mächtig Angst hatte, weil es außerhalb des Hauses lag und dunkel war, der asbachuralte Herd mit einzelnen Kochringen auf der Platte, die man abnehmen konnte, die sogenannte „Guut Stubb“ für außergewöhnliche Ereignisse wie der Besuch der Kinder aus der Stadt und – der Geruch nach Staub und vergangener Zeit.
Jeden Abend musste diese geduldige Frau, in deren Ehebett ich mit schlafen durfte, mir wieder und wieder das Märchen vom Aschenputtel erzählen, dessen silbernes und goldenes Kleid ich zu gerne auch gehabt hätte. Vorgelesen hat sie mir nicht, aber vorgetragen.
Eine weitere Erinnerung betrifft meinen, schon viel zu lang verstorbenen Vater, hoch intellektuell, charmant und sehr eloquent, aber auch verantwortungslos – doch das ist eine andere Geschichte.
Er berichtete mir auf einem wunderschönen Spaziergang im sog. Fürstenlager bei Bensheim an der Bergstraße, wo die Eigenbrodts herkommen, von allerhand Fabelwesen wie dem Wassernöck, der in der Tiefe jeden Gewässers sitzt und einen holen kann, wenn man nicht aufpasst. Gegen die aufkommende Angst seiner jüngsten Tochter hat er ihr Händchen in seine große Pranke genommen, mir konnte also nichts passieren, beinahe nie wieder habe ich mich sicherer gefühlt.
Viele Jahre später dann, das „Parfum“ war gerade erschienen, fuhr ich mit meiner ersten großen Liebe nach Südfrankreich in die Ferien. Er – noch heute ein äußerst bibliophiler Mensch – hatte das Buch gekauft und las mir jeden Abend vor dem Zelt bei einem Glas Wein einige Seiten daraus vor. Als der Urlaub zu Ende war, hatten wir auch das Buch durch (ohne allerdings in Grasse gewesen zu sein, das holte ich 20 Jahre später nach). Eine wunderschöne Erfahrung, auch als Erwachsener vorgelesen zu bekommen.
Noch viel später war es dann mein kleiner Sohn, inzwischen 26 Jahre alt, der mir mit großen Augen und die Ruhe in Person zuhörte, wenn ich Mary Poppins Abenteuer, vom Sams, Momo oder das Fliegende Klassenzimmer vorlas: eine Zeit innigster Zweisamkeit, die sich mit nichts vergleichen lässt.
Als ich dann das große Glück hatte, sehr spät doch noch die wahre Liebe meines Lebens zu finden, habe ich diesem Menschen häufig vorgelesen – meine eigenen Bücher und meine Lieblingsautoren. Es wurde zu einem Ritual, das nur uns beiden gehört und noch mehr verbindet.
Für mich geht Lesen also immer mit großer Liebe und Verbundenheit einher, kaum etwas ist in meinem Leben positiver belegt als das. Und so wünsche ich mir für alle Kinder, dass sie am 18.11. hoffentlich ganz ganz viel Ohrenschmaus genießen durften!